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Ralph Giordano Ansprache zum 12. April 2004 in der Blankeneser Kirche am Markt anlässlich der Ausstellung für die ermordeten Juden von Blankenese

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
aus meiner autobiographischen Hamburger Familien- und Verfolgten-Saga "DIE BERTINIS" (S. 191 -193):

Jedes Jahr waren die Bertinis an den Elbestrand gezogen, hatten in Barmbek die Vorortbahn bestiegen, die erst später in S-Bahn umgetauft werden sollte, waren bis Hochkamp gefahren und dann die lange Straße hinuntergegangen, die rechts und links von vornehm geduckten, modernen oder in stolzer Tradition altmodisch aufgereckten Häusern gesäumt war. Hatten am Ende der Straße die Elbchaussee überquert, ein Name, den sich die Söhne inzwischen gemerkt hatten; waren durch blattumwucherte Wege geschritten und hatten endlich an der steil abfallenden Treppe gestanden, deren Podest den Blick auf das gewaltige Panorama der Unterelbe freigab.

Sie kannten nun den Strom bei Regen und Sturm, unter einem schweren, schwarzgeladenen, von der aufgewühlten, gischtigen Wasserfläche gleichsam herabgesogenen Himmel; kannten ihn im Glanze der Sonne, majestätisch bestrahlt, goldblau verzaubert, gegen Abend changierend, gierig, den immer roteren, runderen Ball zu ertränken.

Um noch lange, nun wie vom Grunde her beleuchtet, zu irisieren, Wenn die Eltern und Ludwig an der roten Mauer lagerten, brachen Cesar und Roman auf und erforschten die Gegend, eine Expedition, die zum Leidwesen Leas stundenlang dauerte. In verzauberten Sommern lernten sie die Blankeneser Landschaft kennen, die Täler vom Geestrücken herab bis zur Elbe, von alten Bäumen beschattete Klüfte, grünstrotzende Mulden, an deren Hängen menschliche Behausungen klebten. Von Dockenhuden stiegen die beiden noch, in den Hirschpark, erkletterten Hügel, entdeckten Winkel, Wege, Treppchen. Fenster mit Aussicht auf das Paradies. Zogen hoch oben den unvergleichlichen Duft der Unterelbe ein, diese atmosphärische Anwesenheit der noch über hundert Kilometer entfernten See; wagten verstohlene Blicke in offene Kapitänswohnungen, durchstreiften das verschachtelte, verwunschene, ungeheuer südländisch wirkende Viertel am Süllberg, ein Auge immer auf dem Strom, wo Schiffe die leichte Spielzeuge schwammen, bunt, zielstrebig, winzig aus der Höhe. Lange und wortlos konnten die Brüder am Hang stehen und nach dem andern Ufer schauen, wo die Nadel eines Kirchturms spitz emporstach und der lange grüne Deich Mensch, Tier und eine unübersehbare Fläche von Obstbäumen schützte, deren weiße und rosa Pracht zur Zeit der Blüte ihren Schimmer vom Alten Land bis ans Nordufer warf.

Unermüdlich schlugen sich Cesar und Roman Bertini durch Busch und Park, meist abseits der Wege, wanderten am Ufer endlang, bis zum Leuchtturm von Wittenbergen; kehrten um, fielen wieder in Blankenese ein und strebten endlich der Stelle zu, wo Lea beunruhigt auf sie wartete.

Inzwischen hatte Alf den Wall aufgeworfen, die hohe Burgmauer aus Sand, ein von Jahr zu Jahr grandioseres Bollwerk gegen die ohnmächtige Sommerflut, und hatte die schräge, festgeklopfte Wand befestigt mit Grassoden und mit Steinen. Dabei half ihm Ludwig mit geschickter Hand, formte Ornamente, Figuren, Kreise. Auch verzierte er den Rand des Walles mit allerlei Arabesken, drückte symmetrische Rillen in den Sand, Zinnen, Bogen, um dann, wenn Lea in lobende Verzückung ausbrach, ärgerlich und stumm zu zerstören, was sein Anteil daran war.

Da alle ringsum Burgen bauten, taten die Bertinis es auch, aber Roman und Cesar beteiligten sich an dem Aufwerfen und Ausschmücken nicht mehr, sondern zogen es vor, sich auf ihre alljährliche Entdeckerwanderung zu machen.

Als sie diesmal davon zurückkehrten, am späten Nachmittag, die bloßen Füße im heißen Sand, in der Nase den Geruch der Elbe und die Haut gewärmt von der anstrengenden Tour, wandten sich ihre Köpfe plötzlich, wie von einem Magnet gezogen, nach rechts. Dort stieg, wie jedes Jahr, der große Herr in Begleitung seines riesenhaften weißen Hundes die steile Treppe herab. Gemessen, Schritt um Schritt, kam er dem Strande näher.

Roman und Cesar Bertini hatten sich bei dem Anblick von einer auf die andere Sekunde versteift. Dann, langsam, den Mann mit dem Hund im Auge, die Nackenhaare wie unter Vorahnungen gesträubt, gingen sie näher auf die Eltern und den Bruder zu.

Der große Herr betrat den Strand einige Schritte entfernt von der Sandburg der Bertinis, wobei ihm Lea am nächsten war. Er löste die Leine des riesigen Hundes und sagte so laut, dass jedes Wort weithin verstanden werden konnte: "Ich gebe Jerusalem zehn Minuten Zeit zu verschwinden, sonst...« Und den knurrenden Hund mit der Linken, am Halsband gefasst, schritt er so hart an den Bertinis vorbei, dass sein Fuß den halben Wall zum Einsturz brachte.

Lea war zusammengesunken, mit geschlossenen Augen und zuckenden Lippen, als wollte ihr der Atem vergehen. Dann, vor dem Verlöschen, kam sie wieder zu sich, raste hoch, packe und torkelte und taumelte mit den ihren davon.

In jener Nacht schrie Ludwig Bertini, als er erwachte, und nichts als Finsternis um ihn war, fürchterlich auf, schwenkte die Arme, brüllte nach Licht, blinzelte in die erschreckten Gesichter von Eltern und Brüder, und schlief schwer und unruhig wieder ein, nachdem er etwas gelallt hatte von einem Kampf, der zwischen einer Bestie und ihm stattgefunden habe.
Fortan erscholl sein Gebrüll jede fünfte oder sechste Nacht durch das Haus in der Lindenallee 113, wenn er erwachte und es ringsum dunkel war.

So geschehen im Sommer 1936. Dreieinhalb Jahre noch bis zum Freitod des Kaufmanns Julius Asch am 31. Dezember 1939 in der eisigen Elbe. Fundstelle - Blankenese, Strandweg Nr. 4.

Zweieinhalb Jahre später, am 17. Juli 1942, einen Tag vor ihrer Deportation, dreht die ehemalige Gutsherrin, Armenpflegerin, Autorin und nun- mehr achtzigjährige Sophie Jansen in der Blankeneser Hauptstraße den Gashahn auf.

Ida Dehmel, Frau des 1920 verstorbenen Lyrikers Richard Dehmel, lehnt die Emigration ab und stirbt am 29. September 1942 von eigener Hand. Der vielseitigen, stadtbekannten Künstlerin Alma del Banco wird der Deportationsbescheid von der Gestapoleitstelle Hamburg am 6. März zugestellt. Am nächsten Tag nimmt sie sich mit einer Überdosis Morphium das Leben.

Vier stellvertretende Verfolgtenschicksale von Juden und Jüdinnen aus Blankenese. Sie schieden nicht freiwillig aus dem Leben, wie es manchmal heißt und man lesen oder hören kann, sie hätten gern weitergelebt - wie die später ermordeten Deportierten auch.

Was sich da im Blankeneser Mikrokosmos widerspiegelte, war ein Makrokosmos staatlicher Mitleidslosigkeit, ein System des Unbedingten, was bedeutete, dass nichts mehr unmöglich war, was Menschen angetan werden konnte, nichts: Ein Novum der Menschheitsgeschichte. Sein Name - Hitlerdeutschland.

Sie müssen sich die Schicksale der hier Verbliebenen als ein Sterben auf Raten vorstellen, eine schrittweisesoziale Entleibung und politische Vivisektion, wie sie sich, für Heutige kaum vorstellbar, grausamer nicht ausgedacht werden konnte. Im September 1935 war die seit 1933 systematisch eingeleitete Entrechtung der Juden durch die so genannten Nürnberger "Gesetze zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" kodifiziert worden, die Charta stetiger bürokratischer Eskalation des Rassenhasses.

Dann der 9. auf den 10. November 1938...Ein Schlüsseldatum, eine Geschichtszäsur.
In jener Nacht, Österreich war bereits annektiert, werden überall im Großdeutschen Reich Juden geschlagen, getreten, beraubt, aus Fenstern geworfen und Treppen hinuntergestürzt, 91 von ihnen erschossen, erstochen oder mit Knüppeln erschlagen. Die Kräfteverhältnisse sind so ungleich, wie sie nur sein können: eine ungeheure Übermacht wirft sich auf Wehrlose. Für den Schaden, der ihnen zugefügt worden war, mussten die Juden eine Kontribution von 1 Milliarde Reichsmark entrichten, und die bereits in Gang gesetzte "Arisierung" jüdischer Geschäfte und Betriebe schwoll mächtig an. Die Durchführungsverordnungen zur "Entjudung der Wirtschaft" vergaßen kein Gebiet - von den Maßnahmen zur Eintreibung der 1-Milliarde-Zwangsabgabe und gegen den jüdischen Einzel- und Großhandel über die Bestimmungen zur Wohnungsfrage bis zur Entfernung von Juden aus allen führenden Positionen.

Jetzt, im fünften Jahr der NS-Herrschaft, wird der Verbotskatalog endlos.
Ich rekapituliere ausschnitthaft eine Situation, in der die Blankeneser Juden selbstverständlich eingeschlossen waren. Verboten war Juden: der Besuch von Theatern, Kinos, Konzerten, Museen und öffentlichen Leihbibliotheken; das Betreten von Badeanstalten, Sportstatten und Parkanlagen (wo lange schon Bänke aufgestellt waren mit der Aufschrift "Für Juden verboten "). Das gleiche galt für Hotels, Restaurants und Cafes, deren Besitzer und Eigentümer das staatliche Verbot oft gar nicht abgewartet, sondern selbst die Initiative ergriffen hatten. Juden wurden Kraftfahrzeuge und Führerscheine entzogen sowie die Fernsprechanschlüsse gekündigt. Sie mussten den Zusatznamen "Sara" oder "Israel" annehmen und durften nach acht Uhr abends nicht mehr auf die Straße treten. Mancherorts bestand sogar das Verbot, nach dieser Zeit überhaupt ihre Wohnungen zu verlassen und Nachbarn aufzusuchen. Jüdische Kinder mu8ten in separate Schulen gehen, und blinden Juden wurde nicht erlaubt, die gelbe Armbinde zu tragen - weil das Mitleidsgefühle erwecken und die Gefahr heraufbeschworen konnte, ihnen behilflich zu sein.

Juden erhielten keine Raucherkarte und keine Lebensmittelmarken für Eier, Milch, Fleisch, Fisch, frisches Obst und Gemüse. Damit sich beim Einkauf Juden und "arische" Käufer nicht berührten, gab es entweder gesonderte "Judenläden " oder, wo das nicht möglich war, speziell Einkaufszeiten für Juden.

Ich weiß, was ich Ihnen zumute, aber ich setze die Liste der Verbote noch um einige bezeichnende Fakten fort: Juden wurden Bezugsscheine für Schuhe und Textilien verweigert, ebenso Material, um Schuhe zu besohlen.

Vom Reichswirtschaftsministerium wurde verfügt, dass Juden Nähmaterial nur noch bis zum Höchstwert von 20 Reichspfennigen vierteljährlich beziehen konnten. Längst waren sie ausgeschlossen von der Belieferung mit Zeitungen und Zeitschriften, vom gesetzlichen Mieterschutz und von der Fortzahlung des Gehalts im Krankheitsfall. Haarschneiden bei nichtjüdischen Friseuren war ebenso untersagt wie der Besitz von Plattenspielern, Fahrrädern, Schreib- und Rechenmaschinen.

Ab September 1941 mu8ten Juden den Gelben Stern trage, und ab April 1942 alle Wohnungen von Juden mit ihm gekennzeichnet sein. Der Flecken wurde von einer Berliner Firma hergestellt. Auf lange Stoffrollen und in schwere Ballen verpackt, wurde, bei Zahlung innerhalb von fünf Tagen 2 Prozent Skonto gewährt. Zahlen mussten die Sternträger selbst.

Was ich Ihnen hier vortrage, waren nicht die Ausgeburten einer höllischen Phantasie, sondern die in Gesetze und Verordnung geronnene Wirklichkeit für Juden im Alltag des damaligen Deutschland.

Manche von ihnen überlebten schon dieses Vorstadium der Vernichtung nicht. Zu ungeheuerlich war der Gegensatz zwischen der einstigen Illusion von Zugehörigkeit und der neuen Wirklichkeit.

Deutschland? Das war doch auch ihre unangezweifelte Heimat gewesen, mit der stärksten Assimilation und Integration von Juden seit dem " Goldenen Zeitalter der Diaspora" im maurischen Spanien des Mittelalters! Deutschland? Das war doch auch ihr Deutschland! So habe ich meine jüdischen Vorfahren erlebt, meine Urgro8eltern, mein Großeltern, meine Mutter, mich selbst. Ja, noch einmal: Deutschland, das war auch unser, war auch mein Deutschland.

Wie viel Vertrauen, wie viel liebende Blindheit!

Juden begingen in vier großen Schüben Selbsttötung: Nach dem Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933; nach der Annexion Österreichs vom März 1938; in und nach der Reichspogromnacht vom November 1938, und während der Deportationsperiode, also zwischen Oktober 1941 und Februar 1945. Die Charakteristika jüdischer Selbsttötung, von den Blankeneser Opfern bestätigt, waren: hohes Alter und hoher Grad der Assimilation, sowie Alleinstehende und Ehepaare ohne Kinder. Fast alle warteten mit dem letzten Schritt bis die Deportationsbescheide bei ihnen eingetroffen waren.

Dann die letzte Etappe derer, die sich nicht zu dieser Verzweiflungstat bereit fanden - man vergegenwärtige sich ihre Situation, nach allem, was ihnen schon bis dahin zugefügt worden war.

Die Spanne zwischen dem unwiderrufbaren Befehl und der Verschleppung. Der Tag hat 86 400 Sekunden, von denen die nächtlichen doppelt zählen. Dann die Schar der Leidensgefährten am Ort des Abtransportes, hier in Hamburg die Moorweide und der Hannoversche Bahnhof, hinter sich alle Brücken abgebrochen. Die Fahrt in den rumpelnden Zügen, nach Osten, immer nach Osten. Schon hier beginnt die Phantasie zu versagen vor der Realität, schon hier geht bei den Betroffenen die Entkleidung alles Menschlichen vor sich, hier spätestens ist die Gegenwelt, die irdische Hölle leibhaftig. In der Enge einer Sardinenbüchse - kein Wasser, keine hygienischen und sanitären Einrichtungen, die diesen Namen verdient hätten. So geht es oft Tage, nicht nur für die Juden aus Deutschland, sondern aus allen Ländern des deutsch besetzten Europa, soweit die Fronten reichten.

In diesen voll gestopften, zugepferchten Güterwagen und Viehwaggons erfolgte der Abschied, endgültig, und doch wohl uneingestanden vor sich selbst bei der unsterblichen Fähigkeit des Menschen, zu hoffen. Dann der Halt, und für die, die noch lebten, Helligkeit durch die aufgezogenen Türen. Wo war man? Eine Rampe, ein Daumen - rechts, links, links, rechts -, für die einen der letzte Gang, für die anderen ein bloßer Aufschub. Lassen wir Gnade walten an uns, den Lebenden und Überlebenden, und unsere hilflose Begleitung hier abbrechen.

Diesen Weg sind 6000 ermordete jüdische Bürgerinnen und Burger Hamburgs gegangen, darunter auch Blankeneserinnen und Blankeneser. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, sich von ihren Plätzen zu erheben, um einiger von ihnen, stellvertretend für alle anderen Ermordeten, zu gedenken:
Hedwig Alexander in Theresienstadt; Selma Berend in Minsk; Hanna Meyer in Lodz; Waldemar Freundlich in Auschwitz; Peter Meyer in Auschwitz -in memoriam.

Noch ein paar Worte zur Vorgeschichte des Holocaust.

Es begann nicht an jenem 9. November 1938, und auch nicht am 30. Januar 1933. Es begann viel früher.
Synagogen haben hier schon vor 900 Jahren gebrannt, zu Zeiten des ersten Kreuzzuges. Die frommen Pilger, die 1096 von Nordfrankreich kamen, warteten nicht ab, bis sie die "Heiden" im Morgenland vor sich hatten, sondern massakrierten erst einmal schon vorab die Juden des Rheintals. Diesem Massenmord folgten andere Massaker, zur Heiligung des göttlichen Namens, wie in den Chroniken zu lesen ist So etwa im 14. Jahrhundert, dem der Großen Pest, für die die Juden verantwortlich gemacht wurden, vor allem aber, weil sie Jesum ans Kreuz geschlagen hatten.

Wie das? Erlauben Sie, das ich einen Moment innehalte und so frage, denn es gehört durchaus aktuell zum Thema: " Wie das?"

Nach christlichem Selbstverständnis hat Gott doch seinen Sohn geopfert, um die Menschheit zu erlosen. Wie lässt sich der Erlösungsgedanke und seine Deutung der Kreuzigung Jesu vereinen mit dem Vorwurf einer ganz anderen Deutung, nämlich der eines jüdischen Verbrechens, bei dem der Erlösungsgedanke völlig fehlt, abhanden gekommen, nicht mehr da ist?

Wie kommt es zu diesen zwei unvereinbaren Kreuzigungsdeutungen - einmal als göttlich beschlossener Erlösungsakt, und einmal als Verbrechen, aus dem jede Erlösungsdeutung verschwunden ist (und das unabhängig davon, ob diese antike Sklavenhinrichtungsmethode nun in römischer oder jüdischer oder in beider Verantwortung vollzogen worden ist)? Es gibt keine Logik, die aus diesem Widerspruch - hie "Erlösungsakt“, da "Christusmord" herausführen könnte - er bleibt antagonistisch und unaufhebbar.
Prüfen Sie sich selbst, ob Sie je darauf gekommen sind. Die beiden Deutungen schließen sich gegenseitig aus.

Darüber konnte man zur Tagesordnung übergehen, wenn es sich allein um ein theologisches Problem gehandelt hätte. Hat es aber nicht, sondern unter der Anklage, sie hätten Jesum ans Kreuz geschlagen, sind über mehr als ein Jahrtausend bin Juden gehängt, verbrannt, gerädert und gevierteilt worden. Der Leidensgang vormoderner Judenverfolgung begründet sich also auf ein göttlich beschlossenes Ereignis, ohne das es keine Heilslehre, kein Evangelium, kein Christentum gegeben hätte. Der Interpretation jüdischer Schuld, die sich vom Erlösungsgedanken der Kreuzigung völlig entfernte, entsprang ein religiöser Antijudaismus, der das Schicksal von Juden über eine unendliche Strecke der abendländisch-christlichen Historie bestimmt hat, und der in christlichen Nationen bis heute nicht überwunden ist -siehe die Unsäglichkeit des Films "The Passion" von Mel Gibson.

Lauter denn je haben sich Christen denn auch die Frage zu stellen: Was hat der christliche Antijudaismus zur Entstehung des modernen, des rassistischen, sozialdoktrinären Antisemitismus beigetragen? Es gibt keine ehrliche Auseinandersetzung zwischen Christen und Juden, wenn dieser Frage nicht ernsthaft und ohne jedes Tabu nachgegangen wird.

Wann auf deutschem Boden der tradierte christliche Antijudaismus in ein anderes, noch gefährlicheres Stadium umgeschlagen ist, kann ziemlich genau bestimmt werden. Man blättere einmal in den Schriften des Johann Gottlieb Fichte nach, in seinen "Reden an die Nation" zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wahrend der so genannten Befreiung oder Freiheitskriege gegen das napoleonische Frankreich. Da schrillt nicht nur ein neuer Diskant hoch zur Verherrlichung der Deutschen, da wird nicht nur ein von vornherein mit Stoßrichtung gegen die Vaterlandsliebe der anderen schwer überfrachteter Nationalismus erkennbar. Da kommt auch ein tiefer, verbalrigoroser Judenha8 hoch, der unter dem keineswegs judenfreundlichen Friedrich II. von Preußen noch völlig unmöglich gewesen wäre - und der dem modernen Antisemitismus so etwas wie einen Prolog schreibt. Das setzt sich über das ganze 19. Jahrhundert fort, gegen dessen Ende denn auch die Judenhasser par excellence alle da sind, im Habsburger oder im Deutschen Reich, die Dürings, die Marrs, die Warmungs, die Lueger. Und irgendwo, noch in der sozialen und politischen Finsternis seines von vornherein verdorbenen Daseins, ein unbekannter Osterreicher, der sie alle bei weitem übertrumpfen wird.

(Jetzt finden wir Bekenntnisse wie) Zitat: "Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen. Sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet."

Der das geschrieben hat, und damit Juden meinte, hieß nicht Adolf Hitler, Heinrich Himmler oder Reinhard Heydrich, sondern Paul de Lagarde, 1896, ein deutscher "Kulturphilosoph", laut meinem Kleinen Brockhaus, und einer der Theoretiker des modernen Antisemitismus. Der halt sich keine religiöse Maske mehr vor das ha8entstellte Gesicht, der erklärt die Juden einfach zum bösen Prinzip der Weltgeschichte. Also nicht mehr allein "Mörder Christi" sollen sie sein, sondern profane Schädlinge, ekle Krankheitserreger, bösartige Viren, die aus dem Volkskörper ausgeschieden müssen."

Dazu bedarf es erst noch des von deutscher Seite zwar nicht allein, wohl aber hauptverantwortlich begonnenen und verlorenen Weltkrieges 1914-18, ehe unter dem Motto "Deutschland - das Opfer der Geschichte" aus der vorgedachten Theorie die Praxis des Holocaust nach den Methoden der Ungeziefervertilgung wird.

Wer weiß denn heute noch, dass es im Reichstag des deutschen Kaiserreichs Abgeordnete gab, die keinen anderen Programmpunkt als den des Antisemitismus auf ihre schwarz-weiß-roten Fahnen geschrieben hatten?

Dass bereits damals Juden die Mitgliedschaft in zahlreichen Organisationen, in Ständevertretungen und in zivilen und militärischen Behörden verwehrt war, gar nicht zu reden von studentischen Korporationen und dem Offizierskorps? "Aber Albert Ballin, „ so wird oft eingewendet, "er galt doch als Vertrauter, sogar als Freund Wilhelms II.!" Gewiss, doch während Majestät sich mit dem jüdischen Reeder Arm in Arm der Öffentlichkeit präsentierte, wird diese Äußerung von ihr bekannt: "Die Juden sind die Parasiten meines Reichs. In meinem Land gibt es viel zu viele von ihnen. Sie sollten ausgemerzt werden." So 1907.

Rätselhaftes Deutschland. Hier, auf seinem Territorium, hatte 200 Jahre zuvor der große jüdische Emanzipationsprozess begonnen, war das Ghetto überwunden worden, und Preußen hatte dabei Pate gestanden. Ungeahnte Fortschritte hatte es seither für die Geächteten der Jahrtausende gegeben, staunend und mit unendlicher Dankbarkeit von ihnen angenommen. Unersetzbar war der gewonnene Status, war ihnen Heimat geworden, und die hieß Deutschland. Wir sollten uns angewöhnen, manch überhitztes Nationalbekenntnis von jüdischer Seite im deutschen Kaiserreich aus dieser Quelle zu verstehen.

Ja, rätselhaftes Deutschland, Land der Gegenläufigkeit. Denn gleichzeitig mit einem Antisemitismus, der an Unheimlichkeit alles hinter sich lassen wird, was er bis dahin ausgespieen hatte, vollzieht sich die Assimilation der deutschen Juden bis zum Höhepunkt eines tiefen Zugehörigkeitsbewußtseins in der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik.

Noch einmal: Wie viel Vertrauen, wie viel liebende Blindheit -einen Schritt vor dem Abgrund...

Wer von den Blankeneser, und darüber hinaus Hamburger Juden, konnte sich damals schon das Rissener Haus Steubenweg 36 vorstellen? Zunächst ein Hachscharah-Lager für Auswanderungswillige nach Palästina, wird es nach Kriegsausbruch zum "Judenhaus" -Zwangsunterkunft für aus ihren Wohnungen Vertriebene, die dann 1941/42 nach Lodz, Riga, Minsk, Auschwitz und Theresienstadt deportiert und dort getötet wurden.

Und die überlebten - was war mit ihnen?

Die Namensliste des Vereins zur Erforschung der Geschichte der Juden in Blankenese weist von denen, die in Deutschland geblieben waren, nur wenige aus. Zwei davon im KZ Theresienstadt, zwölf in Blankenese selbst, darunter Frau Dr. Erika Friedburg Wille, Eva Wulle, Trude Fritz Martens und Herr Theodor Schiff.
Sie entkamen der Schoah.

Wie auch die Bertinis, alias Giordanos, meine Familie - nach zwölf Jahren, in denen sich die Garotte, das Würgeisen des Verfolgungs- und Vernichtungsapparates, immer enger um unseren Hals gelegt hatte. Wir überlebten -in einem kalten, ewig feuchten, rattenverseuchten Kellerloch des Hamburger Nordens, wo wir vor der Deportation der Mutter untergetaucht

waren. Fortwahrend von Entdeckung bedroht, in völliger Dunkelheit, von Ratten angenagt und die letzten Wochen von jeglicher Nahrungszufuhr abgeschnitten. Als wir am Morgen des 4. Mai 1945 die Panzer der 8. Britischen Armee des Feldmarschalls Montgomery ganz in der Nähe vorbeidröhnen hörten, waren wir zu schwach, um unseren Befreiern aufrecht entgegengehen zu können. Obschon fast sechzig Jahre her, sehe ich noch meine Mutter, meinen Vater, meine beiden Brüder auf die Alsterdorfer Stra8e zukriechen - ein Anblick, auf den niemand vorbereitet sein konnte. Verspakt, als hatten wir lange in Moos gelegen und dessen Feuchtigkeit und Farbe angenommen, mit einer Kleidung, die so mürbe war, dass sie schon durch die bloße Reibung mit dem Boden zerfiel, mussten wir einen Anblick geboten haben, der mit Menschen kaum noch Ähnlichkeit hatte. Aus der endlosen Kette der Panzer, die von der Innenstadt zum Flughafen Fuhlsbüttel rollte, blieb plötzlich einer stehen, aus dessen geöffnetem Turmluke ein Soldat hervorkam und auf die grauenhaften Gestalten am Kantstein mit einem Gesichtsausdruck schaute, den ich Die vergessen werde – so starrt man Wesen an, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen. Und jetzt, im ungewohnten Licht des Tages, gewahre ich was ich vorher in der Finsternis des Verlieses so nicht wahrgenommen hatte: meine Mutter, beim Einzug noch in der vollen Pracht ihres pechschwarzen Haars, hatte keine einzige dunkle Strähne mehr darin -es war vollkommen weiß geworden.

Und doch war das Unglaubliche war geschehen, unglaublich bis heute noch: Wir waren befreit.

Und das dank jener - nichtjüdischen - Frau, die, als ich sie fragte, ob wir uns bei ihr verstecken konnten, mit einem einzigen Wort antwortete: "Natürlich!" - mehr nicht. Und das, obwohl sie wusste, dass bei Entdeckung ihr Leben genau so verwirkt gewesen wäre, wie das unsere (So lange ich lebe, bis zu meinem letzten Atemzug, werde ich Dir, langst verstorbene Grete Schulz, meinen Dank darbringen.

Durch eine Haltung wie die Deine, haben etwa 5000 Juden in Deutschland überlebt. Ruhm und Ehre den nichtjüdischen Frauen und Männern, die es uns ermöglichten - Ruhm und Ehre!

Ja, noch einmal, wir waren am Leben.

Aber das mit einer doppelten, einer zweifachen Bürde - sage ich aus der Retrospektive eines langen, langen Daseins, und im Namen anderer Überlebender des Holocaust auch.

Die erste Bürde ist die der Erinnerungen. Und die Äonen seither lassen keinen Zweifel, dass die Zeit, die sonst doch alles heilt, hier gar nichts getilgt hat. Im Gegenteil - je größer der zeitliche Abstand zum Damals wird, desto naher rücken die Schreckensbilder von einst, desto plastischer und gestochener werden sie, und die Intervalle zwischen den Albtraumen immer kürzer. Gleichzeitig aber und parallel damit vertiefen sich auch die Kenntnisse des industriellen Serien-, Massen- und Volkermords mehr und mehr. Infolgedessen werden auch die dem Individuum abverlangten Energien, sich von dieser Hürde nicht überwältigen zu lassen, immer aufwendiger.

Und dazu gibt es, wie gesagt, noch eine zweite.

Da ist ein wahrer Leichen-Himalaya aufgetürmt worden - nur Täter, Täter konnten für ihn angeblich nicht haftbar gemacht werden.

Wir leben in einem Land, wo dem größten geschichtsbekannten Verbrechen mit Millionen und aber Millionen Opfern, die wohlbemerkt hinter den Fronten umgebracht worden sind wie Insekten, das größte Wiedereingliederungswerk für Täter gefolgt ist, das es je gegeben hat. Sie sind, von Ausnahmen abgesehen, nicht nur straffrei davongekommen, sondern durften ihre Karrieren noch unbeschadet fortsetzen - Beispiele dafür könnten bis Mitternacht angeführt werden. Ich begnüge mich aber mit der Feststellung, dass die nahezu kollektive Entstrafung, der "Große Frieden mit den Tätern" nicht nur unerträglich, sondern auch unumkehrbar ist: Es konnte nahezu straflos massen- und millionengemordet werden.

Ich habe das die "zweite Schuld" genannt, nämlich die Verdrängung und Verleugnung der ersten unter Hitler, eine Folgeschuld, von der die politische Kultur der Bundesrepublik wesentlich mitgeprägt worden ist. Das gilt übrigens auch für die ehemalige DDR, die trotz ihrer anmaßenden Etikettierung als antifaschistischer Staat die NS-Vergangenheit ebenso so wenig aufgearbeitet, sondern sich mit ihren eigenen Vorzeichen drum herum gelogen hat.

Und auch im einheitlichen Deutschland zeigt sich, wie zäh sich Denk- und Verhaltensweisen aus der vordemokratischen Epoche gehalten haben. Hitler, und was der Name symbolisiert, ist zwar militärisch, nicht jedoch auch schon geistig, oder besser ungeistig, vollständig geschlagen. Das ist mein Resümee, am heutigen Tag und an dieser Stätte.

Aber ...

Während der ganzen Zeit meines Vortrags und seines düsteren Freskos, das dieses Gedenken an die Blankeneser Juden erzwingt, spüre ich das dringende Bedürfnis, Trost zu empfangen und Trost zu spenden; lebt in mir das Verlangen, Versöhnendes zu sagen, Hoffnung zu geben, Mut einzuflößen, Licht zu schaffen.

Denn natürlich hat sich in den langen Jahrzehnten seit 1945 Elementares verändert; natürlich besteht die Bevölkerung keineswegs mehr aus den tief nazi-infizierten Generationen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Gegenwart sieht vielmehr eine übergroße Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern, die schon von ihrem Lebensalter her in jeder Weise, de jure, de facto, historisch, politisch;, moralisch, frei von Schuld an den NS-Verbrechen sind. Kraftvolle Demokratisierungsprozess sind unleugbar, und bei all ihren Mangeln, Fehlern und Gebrechen - ganz sicher sind die demokratische Republik, der demokratische Verfassungsstaat inzwischen wohl als das kleinste aller Staatsübel in der Menschheitsgeschichte anerkannt. Wir sollten sie verteidigen, mit ganzer Kraft, darunter das, was für einen Mann mit meiner Biographie und ihren Vergleichsmöglichkeiten das kostbarste von allem ist, und was sich hier gerade zur Stunde manifestiert: die angstfreie Rede.

Gerade als Davongekommener bekenne ich gern, dass ich hier vor Ihnen stehe in tiefer Dankbarkeit für die Arbeit des "Vereins zur Erforschung der Geschichte der Juden in Blankenese", dass ich mich mit Bewegung in ihre Ergebnisse vertieft habe Und eine enge Bundesgenossenschaft verspüre. Ich habe über die Schrift „Das Leben der Sophie Jansen“ geweint und die Broschüre des Kirchenkreises Blankenese zu meiner wiederholten Lektüre gemacht, während ich immer wieder, über die "Namensliste" gebeugt, dem Schicksal der Genannten nahe zu kommen versuche.

Hier, so unter Ihnen empfinde ich nur abermals, wie richtig es war, gegen den einstigen Schwur, im Falle der Befreiung den blutigen Staub dieses Landes so schnell wie möglich von meinen Füßen zu schütteln, dennoch in Deutschland geblieben zu sein, gegen alle Drohungen, Enttäuschungen und übrigens auch innerjüdischen Vorhaltungen.

Aber im Grunde genommen hat es mich gar nicht gefragt, was ich wollte oder möchte, dieses Deutschland. Es hat mich festgehalten, hoffnungslos und ohne jede Aussicht auf Änderung, es hat mir meine Unlösbarkeit eingerichtet - wohin auch immer ich geflohen wäre, es wäre mir überall nachgekommen.

Doch auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts so, muss dieses Deutschland wissen, dass in ihm, immer noch, Augenzeugen weilen, die beim unfreiwilligen Einatmen der Auspuffschwaden im Stau des motorisierten Wohlstandsblechs unweigerlich an die Gaskammern von Auschwitz, an die Gaswagen von Chelmno denken. Die Gesellschaft des wiedervereinigten Landes soll, sie muss wissen, dass in ihr noch Menschen weilen, die beim Anblick jeder Wunde, jeden Tropfen Bluts an Babi Yar, an Lidice, an Oradour-sur-Glane denken; Menschen, die zusammenzucken, wenn sie das ebenso begrifflos wie inflationär benutzte Wort "Einsatz" vernehmen...

Nachdem es doch die mobilen Mordkommandos der "Einsatzgruppen" gegeben hat. Ich gebrauche diese Vokabel der lingua tertii imperii, der Sprache des Dritten Reiches, des Unmenschen, nie mehr -es sei denn bei einer notwendigen Demonstration wie dieser.

Ja, Hitler ist militärisch geschlagen, nicht aber auch schon vollständig geistig, oder besser ungeistig - was sich alltäglich wieder auf mannigfache Weise zeigt.

Stellen wir also dem gewöhnlichen, dem schwelenden Nazismus, der kultvoll gepflegten Unfähigkeit zu trauern, der bekennenden Unbelehrbarkeit, stellen wir ihnen offensiv unsere bürgerliche Courage entgegen, die wachsame Humanität des Alltags. Lassen Sie uns energische Widersacher sein, wo immer die Kakophonie von Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit misstönend zu vernehmen ist. Geloben wir Älteren, der Jugend Mut zuzusprechen und ihr zur Seite zu stehen, wo immer sie es nötig hat angesichts der Aggressivität einschüchternder Gewalttäter, die nur in Horden mutig sind. Legen wir die kritische Sonde aber auch an uns selbst, beobachten wir uns misstrauisch dort, wo wir anfällig sind gegenüber Gedanken und Handlungen, die wir verabscheuen, die uns aber dennoch nicht unvertraut sind. Und stellen wir uns nicht über andere, da wir doch immer wieder erfahren, wie sehr wir mit uns selbst kämpfen müssen, um den besseren, den menschlicheren Teil in uns zu mobilisieren.

Ich will dabei an Ihrer Seite stehen, im Gedenken an die Schicksale der Blankeneser Juden, stehen mit jenem Daseinsmotto, das nur erkämpft und erlitten werden konnte, das alles bestimmt hat und an dem ich mich orientiere wie an einem Kompass, der mir unbetrügbar den Weg weist - ein, Motto, in das die Summe alles biographisch Erlebten in langen achtzig Jahren eingeschlossen ist, und das lautet: "An Auschwitz erinnern - und das Leben preisen...an Auschwitz erinnern - und das Leben preisen!"

Dr. Ralph Giordano